Segelcriterium 2022 - Teil 2
Zum ersten Mal mit dabei ist Marc aus Bristol, ein so bescheidener, freundlicher Brite, dass es kaum zu glauben ist.
- Vermutlich ist der in Wirklichkeit so versnobt, dass der einen Pullover erst anziehen würde, wenn er mindestens zwei Löcher hat:
mutmasse ich.
Thomas hat sich einen Waldschratbart wachsen lassen.
- Mein Segelkanu hab ich Pippilotta genannt: sagt er und grinst wie Räuber Hotzenplotz.
- ... Viktualia Rollgardina Pfefferminz Efraimstochter Langstrumpf: sage ich. - Guter Name, wirklich!
Angelo ist da, diesmal mit Schlauchboot, Plastikausleger und einem alten Optimisten-Segel, alles aus Gebrauchtteilen
ingeniös zusammengefrickelt.
- Wenn er nur in der Ferne besser sehen würde, beispielsweise Start und Ziel, hätte er die Regatta schon in der Tasche:
sagt Stefan.
Ich versuche, meinem Boot für die erste Nacht das Cockpitzelt zu montieren und hantiere vor zahlreichem Publikum hilflos
mit Stangen und Tuch.
- Gib dir keine Mühe mit dem Spinnaker: sagt Stefan und winkt mit dem Paddel. - Zu kompliziert. Der macht dich auch
nicht schneller.
Am Samstagmorgen paddeln wir gemeinsam zum Stadtwaldsee, dann werden aus Freunden Gegner. Per vermiest seine
Aerodynamik mit einer Flagge von Kapitän Blackbeard, fast so gross wie sein Segel.
- Auch ne Regattataktik. Mit der Flagge wird keiner in deine Nähe kommen: sage ich.
- Wir werden das Feld vor uns hertreiben: mutmasst Per und deutet auf sein mit Tape geflicktes Boot, denn Segeln ist immer
auch eine Frage der Prioritäten.
Auf den letzten Minuten schnell segeln, keine Fehler machen, nicht so wie Arend, der mit einer gebrauchten Dinghy-Segelanlage hoffnungslos übertakelt voll an der falschen Seite der ersten Wendemarke vorbeigeschrammelt ist. Hier ist die Seemitte, hier kommt die Böe! Während das Adrenalin pumpt, ärgere ich mich über meine beiden Steuerstöcke, sehr bequem für eine Tourenseglerposition mitten im Boot, aber für das Ausreiten auf dem Seitendeck weniger effizient als die direkte Pinnensteuerung von Koos, immerhin hänge ich Stefan ab. Sauber auf den Strand zuhalten, auf die Ziellinie, nicht kentern! Beim Anlanden übernimmt das körpereigene Belohnungssystem und schenkt mir ein einzigartiges, von Glückshormonen hervorgerufenes Freiheitsgefühl.
Ich beobachte den Zieleinlauf der übrigen Boote. Enno ist mit Eisvogel ins vordere Drittel gesegelt.
- Die Führung der Schot hab ich optimiert, kann jetzt viel besser hoch am Wind anliegen: freut er sich.
Ich nicke im Bewusstsein, dass sein Seitenschwert ein Bausatz von mir ist und genehmige mir darauf ein Stück
Torte vom Ziellinien-Büfett.
Nach der Regatta, zurück im Clubgelände, verteilt Stefan Wanderpreise, einer schrecklicher als der andere und alle zu
nix gut. Jeder bekommt einen, bis auf den disqualifizierten Arend, der die Wendemarke verpeilt hat. Wie zum Beispiel die
perfekt als Matrosinnen kostümierte Amazonencrew, oder Per, der für den gesamten Regattaball ein Curry kocht, das von
Jahr zu Jahr immer besser wird. Marc aus Bristol bekommt für die lange Anfahrt ein überdimensioniertes Knotenbrett.
- I never drove such a long way for such a short sailing: meint er.
- Da hab ich noch den Kinderpreis, der ist dieses Jahr frei: sagt Stefan. - Einen von uns gibt es, der ist von
seiner Mutti zur Regatta gebracht worden und wird auch von ihr abgeholt... Enno, komm doch mal nach vorn.
Ich lache, aber nicht lange. Denn auf mich wartet der Designerpreis, ein hässliches Modell eines Schratseglers,
mit besten Wünschen von Stefan.
- Von dem Boot kannst du sicher viel lernen: sagt er.
Abgelenkt durch die komplett funktionsfähige direkte
Pinnensteuerung des Modells bekomme ich nur halb mit, wie sich Stefan einen Platz deklassiert, wegen seiner notorischen
Paddelei, streng nach der Walter Becker Rennformel, eine der letzten Paradoxa der Mathematik. Damit rutscht Thomas
auf den dritten Platz, und als ich mit Koos und ihm auf dem Treppchen stehe, fühle ich mich, als hätte ich wirklich
dreifach gewonnen.
Arend verräumt sein Boot in den Schuppen, nur mässig enttäuscht.
- Das ist nur wegen deiner direkten Paddelsteuerung: sage ich. - In der Böe vor der Wendemarke hätte ich mit dem
Paddel allein auch nicht weit genug abfallen können. Wenn du Interesse hast, ich hätte einen Bausatz für eine
Ruderanlage für dich, macht bestimmt ein halbes Dutzend Plätze aus.
- Ich warte immer noch auf den Bericht eines Törns "Elbe aufwärts im Segelkanu": sagt JAN.
Seine Augenbrauen wölbten sich mit der Autorität einer mehr als siebzig Jahre alten Enzyklopädie des Wassersports,
sein Herz schlägt immer noch für Tidengewässer, nicht für die Greisenpfütze, in der er einmal pro Woche
Wassergymnastik absolviert, immer noch Initialzünder, Zündfunke für Ideen.
- Ja, die Windrichtung ist dort meistens von der Seite: sagt Enno. - Aber im oberen Lauf mäandert sie
um 180 Grad. Ich hab Bilder von meinem Elbe-Törn dabei, lass uns mal draufschauen.
- Das Bier, das Essen, das haben wir Mitglieder diesmal gestiftet: sagt Sven. - Wie üblich lassen wir den Hut rumgehn,
das kriegt alles die Stiftung "Herz für die Ukraine", die besorgen den Ukrainern Decken, Zelte, Medikamente und so
Zeug.
Es wird eine wilde Nacht. Sven hat Musik mitgebracht, es wird getanzt und getrunken. Horst hat das Wesen des ARTEMIS Segelkanu entdeckt. - Ich hab schon mal bemerkt, dein Boot ist ein als Kanu verkleidetes Surfboard: sagt er.
Am Sonntag bin ich schon früh auf und treffe auf Angelo.
- Der frühe Vogel fickt das Huhn, hat mein Papi immer gesagt: grinst er anzüglich.
In diesem lichten Moment, mit dem Blick auf die schiefe Bootshütte und einem Blinzeln in
die Morgensonne, erkenne ich das Wesen des Clubs als eine Filiale der Villa Kunterbunt, die Regatta als erhabenen Spott
auf das Renditestreben einer auf Wille und Vorstellung getrimmten Welt. Pippi Langstrumpf hätte Gründungsmitglied sein
können. Der KCH, als Ganzes grösser als die Summe seiner Teile, lebt, was er ist: etwas schief, etwas anstössig, aber
als streng gemeinnütziges überhaupt nicht kommerzialisiertes Sammelbecken für Paddler mit völlig unterschiedlichen
Meinungen nicht angreifbar und dadurch ungeheuer resilient. Und er ist -wie einige seiner Mitglieder sowie der
albernen Regatta- mit seinem partiell ikonoklastischen Ansatz auf dem besten Weg zu einer lebenden Legende.
Hier geht es zu Burkharts Film zum Segelcriterium 2022
Hier geht es zur Homepage des Kanu Clubs Hanseat
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