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Ostfriesische Inseln - Teil 1
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- Da ist ein Hoch über der Nordsee: sagte Stefan am Morgen nach der Segelkanuregatta. Der Rand liegt über den ostfriesischen Inseln, Ostwind und eine stabile Wetterlage.
Die Worte sickerten langsam in mein Bewusstsein ein, verdrängten den Nebel aus Gin und Bier, der von dem notorischen Regattaball übriggeblieben war. War da gestern nacht nicht irgendein Unfug mit der Schweizer Fahne und einem Mädel im Heidikostüm und Gummistiefeln los gewesen, oder hatte ich das nur geträumt? Ich blickte hoch: da hing die Schweizer Fahne ganz oben auf dem Flaggenmast des Kanu Club Hanseat und flatterte im Wind. Ostwind.
Das Revier kannte ich aus "Das Rätsel der Sandbank" von Erskine Childers. In dem Buch kreuzen die beiden Engländer Carruthers und Davies vor etwa hundert Jahren im Wattenmeer und enttarnen dort einen internationalen Spionagering. Sie kämpfen mit Nebel, unberechenbare Strömungen, den Sandbänken und den Tiden - besser, sie nutzen sie zu ihrem Vorteil. Unser Plan war, im Osten anzufangen und uns nach Westen blasen zu lassen, eine Insel nach der anderen.
Niemals würde ich so einen Törn allein machen. Zum Glück kennt Stefan das Wattenmeer gut. Und das beste
war, dass Stefans perfekt ausgerüstetes Kajütboot schon abfahrbereit auf dem Trailer stand. Aber das Leben ist
halt voller Überraschungen.
- Ich hab das Segelkanu schon auf dem Dach: sagte Stefan. - Wenn's nach mir geht, können wir los.
Eine Stunde später waren wir nach Ostfriesland unterwegs.
In Neuharlingersiel luden wir unsere kleinen Boote voll, stellten die Autos weg, zogen Neopren an und paddelten
aus der Rinne. Die Sonne kam raus, der frische Wind blies Tropfen vom Paddel ins Gesicht, die Dünung war erträglich.
Draussen setzten wir Segel und fuhren über die Sände, die auflaufende Strömung versetzte uns kräftig ostwärts.
An meiner Angst werd ich noch einmal sterben, oder ich gewöhn mich dran.
- Alles gut: sagte Stefan. - Lass uns ausreffen. Wir nehmen dann im Seegatt das Rigg wieder weg und paddeln
durch die Brandung vierkant auf den Strand.
Am Strand zogen wir die Boote über die Hochwassermarke und liessen sie liegen. Der Campingplatz von Spiekeroog
lag direkt hinter der Düne, mitten im Ödland.
- Dieser Zeltplatz sieht aus wie eine Hilleberg-Zeltausstellung: sagte Stefan.
- Ja, vier Zelte auf vier Quadratkilometer: sagte ich. - Übrigens, heute abend gibt es Schweizer Fondue
auf dem Campingkocher.
Als wir in der Abendsonne auf die rosig und hellbraun überhauchte Düne kletterten, ragten im Westen bereits die ersten Sände aus dem Wasser.
In Spiekeroog speisen die Urlauber abends im Schein des Silberleuchters Heilbutt hinter dem
historischen Kapitänsfenster, mit Blick auf die Hagebuttenhecke und auf das Seegras im Vorgarten, das
vom Wind flachgelegt wird. Das Durchschnittsalter der Gäste lag bei fünfundsechzig. Spiekeroog ist
eine Märcheninsel, verschlafen wie Dornröschen.
- Wie wär's mit einem Feierabendbier: sagte Stefan.
- Ich glaube, wir sehen ein wenig aus wie Davies und Carruthers. Ob die uns reinlassen?
Natürlich liessen sie uns rein.
Am nächsten Morgen ging der Kocher immer wieder aus, weil ich dreckigen Sprit dabei hatte. Die hübsche
Apothekerin im Dorf auf der autofreien Insel hatte nicht genug Wundbenzin, aber im Supermarkt gab es Lampenöl. Mit einer anderen
Düse und ordentlich Vorheizen machte der Kocher keine Probleme mehr.
- Ich hab mal eine Zeitlang mit Diesel gekocht: sagte ich. - Erst wenn du Bratwurst vom Dieselkocher gegessen
hast, kannst du sagen, du hast wirklich gelebt.
- Hm: sagte Stefan. - Ich hab einen Blog im Internet gelesen, da hat jemand sein Klappmesser zwanzig Minuten
lang frittiert. Dann klemmt der Holzgriff nicht mehr, wenn er feucht wird.
- Perfekt: sagte ich. - Wenn man reist, kommt man mit einer Menge guter Ideen heim.
Auf Langeoog durften wir in der leeren Bootshalle des Seglervereins übernachten. Ich wachte von einem gleichmässigen Rauschen auf. Als ich in den grauen Morgen trat, erkannte ich, dass es der Wind war, der um die Halle drückte. Da hatte ich eine schwache Stunde, bis die Sonne aufging. Ich weiss nie, ob ich zehn Jahre zu früh dran bin oder hundert Jahre zu spät. Wenn die Sonne scheint, ist es kinderleicht, die Dinge nüchtern und unsentimental zu sehen. Nachts ist das eine ganz andere Geschichte.
Ich erinnerte mich an Jan, der nach der Segelkanuregatta unversehens neben mir stand, den Blick auf den Bremer
Unisee, beiläufig auf seinen Stock gestützt. Was er sagte, war leise und schien an niemanden direkt gerichtet:
- Das Reisen mit kleinen Booten hat Zukunft: sagte Jan. - Die heutige Generation der Rentner ist die letzte, die
reich ist. Die letzte, die sich grosse Boote noch leisten kann. Danach kommen die mit den fraktalen
Biografien, den Jobunterbrüchen, den Karriereknicks. Die haben schon aus Notwendigkeit ein ganz anderes
Freizeit- und Konsumverhalten. Wer sich jetzt mit kleinen Booten beschäftigt, den holt in zehn Jahren
keiner mehr ein.
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