Friesland 2018- Teil 1
Zwei Ansichten
Es war am dritten Tag, als ich die Langsamkeit entdeckte. Ich paddelte mit Enno an einem sonnigen
Julitag durch die friesischen Kanäle, er auf seinem Segelkanu Eisvogel, ich auf Artemis. Das
Wasser wand sich durch geschwungene dicht bewachsene Ufersäume, die Ausblicke auf Hecken, Felder und Wäldchen freigaben.
Auf den Wiesen im Norden stand Bärenklau, Pestwurz wuchs in grossen Büschen an den schattigen Ufern, Wasserläufer
zickzackten über den Wasserspiegel, Libellen glitten darüber hin, lautlos, mit glitzernden Flügeln. Es geschah, als die
Reflexe des Sonnenlichts auf den Wassertropfen auf dem Vordeck eine ungewöhnliche Leuchtkraft bekamen, der Himmel sich über mir
weiter wölbte. Das grünliche Wasser war von sonnigen Lichtfäden durchzogen, und ich war einfach glücklich, entspannt durch
den Kanal zu paddeln. Ich freute mich an der direkten Reaktion meines Bootes auf die Paddelschläge, an das silbrige
Flimmern der Sonne auf dem Wasserspiegel, die unbezahlbaren Momente reiner Gegenwärtigkeit: denn eine Reise führt weiter
aus uns heraus, als wir ahnen.
Enno hat als Solo-Kanadierfahrer und-segler einen langsameren Herzschlag als wir agile, hyperaktive Doppelpaddler.
Auf seinen Touren über insgesamt einige Tausend Kilometer hat er gelernt, im und aus seinem Kanu zu leben. In der Zeit
der kalten Nordseestürme schnitzt er Becher und Löffel aus Holz, die bei den traditionellen Kanadiertreffen ebensoviel
Beachtung finden wie sein Boot und seine Ausrüstung im traditionellen Leinen-Leder-Loden-Stil. Ich schaute mir seine
ruhige Selbstverständlichkeit ab, den bewussten Umgang, der allen Dingen die Wertigkeit gab, die ihnen zukam. Es war nicht
gerade Arbeit, unsere leichten und agilen Boote vorwärts zu bewegen, aber es erforderte ruhige, umsichtige Aufmerksamkeit,
den ganzen Tag.
Von Winsum aus, nördlich von Groningen, waren wir ins Lauwersmeer gesegelt, dann südwärts Richtung Sneek.
Zunächst schien ein Trip von Lauwersoog ins Wattenmeer und auf die Nordsee-Inseln eine Option, aber Wetter und Tide
passten nicht. Enno hatte schon am ersten Tag versucht, die Götter der Meere und der Winde durch eine Zeremonie
mit selbstgemachtem Sanddorn-Aufgesetzten günstig zu stimmen. Am nächsten Tag kreuzten wir in grenzwertig viel Wind und Welle im
Lauwersmeer und dachten an die Götter, die offensichtlich nicht beeindruckt davon waren, dass wir uns den
Sprit selbst hinter die Binde gossen anstatt ihn ins Wasser zu kippen.
Es war die Zeit der Algenblüte, die das Wasser flaschengrün verfärbte, dabei hatte ich es von einer Reise im Mai noch braun in Erinnerung, unterwegs mit meinem Vater und meinen Brüdern auf einem Motorboot, auf denselben Kanälen,
die Erinnerung weiss das beruhigende Brummen des Diesels, das Blubbern des Propellerausstoss und die verzögerte Reaktion
des trägen Bootes auf Ruderbewegungen, den hakligen Gashebel. Es war sonnig, aber der kalte Wind blies silbrige
Glitzerwellen auf das Wasser, sorgte für Gänsehaut auf den Unterarmen, stellte die Nackenhaare auf.
Wassersport in Friesland erschien mir als Travestie, abgesehen natürlich von Koos, der an einem Tag in seinem Segelkanu bis zu siebzig Kilometer segelt und paddelt. Der Rest der Wassersportler fährt Motorboot im Spaziergängertempo, und jeder Fahrradfahrer, der uns fröhlich winkend auf dem Damm überholte, war sportlicher als wir. Wir winkten zurück.
Die Friesen bauen alles aus Stahl, sogar die ganz kleinen Boote, und es ist anachronistisch. Wir sind vielleicht die
letzte Generation, die wie Dinosaurier durch die Kanäle pflügt: schwere Boote mit Tiefgang, deren hohe steile Heckwellen
die Kanalufer auswaschen. Die Dinosaurier sind langlebig, denn das Problem der Korrosion ist im Grunde gelöst.
Ich liess tief im Segelkanu sitzend die Namen der Stahl gewordenen Träume an mir vorüberziehen, die in der Nähe der Dörfer an den Ufern vertäut waren: Fram. Finn. Droge Ham. Luna. Levina. Darunter ein paar Plattbodenschiffe mit grossen Seitenschwertern, die alle aussahen, als ob sie Dumbo hiessen. Ein Motorkreuzer hiess Episode, als wüsste sein Skipper, dass es im Leben eines Dickschiffeigners nur zwei glückliche Tage gibt: den Tag, an dem er das Boot kauft, und den Tag, an dem er das Boot wieder verkauft.
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