Friesland 2018 - Teil 3
Zwei Ansichten
An den Kleinigkeiten zeigt sich, wieviel anders die Niederlande sind. Die Dekoration in den blanken Wohnzimmerfenstern stellte geordnete Verhältnisse aus, aber ich verstand sie nicht. Entweder zwei grosse Vasen mit Trockenblumen oder zwei Töpfe mit Aaronstab oder Orchideen, zwei durchbrochene Paravents, Öllampen: Variationen eines Themas, fragmentierte Einsicht in einen Lebensraum. Enno kam auf das Märchen mit der Gardinensteuer zu sprechen, aber es blieb ein Rätsel.
In einer ruhigen Stunde in Prinzenhof, Alde Feanen, gefühlt weit weg aber nur ein paar Kilometer fern der Zivilisation, kam das Echo aus der anderen Reise:
Es war vielleicht die Entschleunigung, die langen Stunden am Steuer, das Übermass an Landschaft oder die Freude, unterwegs zu sein. Es passierte während des Aufklarens nach dem Regen, als die Boote und die Mühle wie blanke Scherenschnitte vor dem metallischblauen Himmel standen. Die Farben waren klargewaschen, lebhafter und wie von innen leuchtend. In diesem Moment hatten Vergangenheit und Zukunft keine Bedeutung, ich war einfach da, sah, hörte und fühlte, erinnerte und erwartete nichts, und wusste ohne nachzudenken, warum ich dort auf dem Wasser war, als sei ein Schleier weggezogen:
um in einer Welt stetiger Veränderung zu leben. Um das Leben so zu sehen wie es ist. Um Geduld zu bekommen, Furcht zu verlieren. Um zu verstehen, dass nichts besser oder schlechter ist als es ist. Um offen zu werden und den Unfug zu vergessen. Um sich in der Reise zu verlieren und einen Weg zu sich selbst zu finden. Um eine Ahnung von der Ewigkeit zu bekommen.
Zum Wochenende kam uns Koos mit seinem Segelkanu Wolf besuchen, und brachte sein überdimensioniertes Luggersegel mit. Auch Enno und ich waren mit Luggersegeln unterwegs, denn in Frieslands Kanälen mit vielen Brücken sind sie das einzig vernünftige Rigg. Vor der Brücke löst man das Fall, wickelt Segel, Baum und Lugspriet zu einer Rolle und lascht sie an das Seitendeck. Je nachdem, wie hoch die Brücke ist, paddelt man mit aufrechtem oder mit gelegtem Mast darunter durch, und zieht unmittelbar danach das Segel wieder hoch. Später entwickelten wir eine Technik, unter hohen Brücken nur das Lug zu dippen.
Mit Koos wurde das Segeln sehr schnell und sehr nass, denn ein Tag ohne Gleitfahrt ist für Koos ein verlorener Tag. Koos ist ein ehemaliger Tragflügel-Mottensegler mit dem Gleichgewichtssinn eines Hochseilartisten, und kenterte am Wochenende nur zweimal, einmal davon mit Absicht. Sein Segelkanu ist ein auf schnelle Langstreckentouren optimiertes ARTEMIS Segelkanu. Ich staunte über seine gewichtsoptimierte Ausrüstung. Er selbst gab zu: dass er den Schlafsack aus Gewichtsgründen zu Hause gelassen hatte, war ein Schritt zu viel.
Meine Erinnerung an die erste Reise, überlagert von der zweiten, wird unzuverlässig und unscharf, streifig wie ein doppelt belichtetes Bild. Ich bin müde und zu wach, erinnere mich und weiss es nicht mehr. Ich frage mich, wie es wirklich war. Wie war es denn? Ich glaube es war so:
Als das Licht weich wurde und die fahle Dunkelheit die Bucht einkreiste, sassen Enno und ich in der Dämmerung an unsere
Boote gelehnt.
- Wie geht es deinem Vater: fragte Enno.
Ein Windstoss fuhr in das Schilf. Ich hörte es rascheln, sah, wie das Wasser in der Bucht dunkel wurde, rifflig
wie Wellblech, und dachte dahinter eine Antwort zusammen.
- Mein Vater, über achzig, lebt noch: sagte ich. - Seine Krankheit legt wohl gerade eine Pause ein.
Ich dachte an die Reise vom Mai:
Wenn man von oben in das Wasser blickte, in die düstere, bräunlich schimmernde Einsamkeit, liess die Sonne Schwebstoffe golden aufleuchten. Der Blick verlor sich in der moorigen Tiefe: hinter dem Glitzern blieb der Grund unsichtbar.
Quellennachweis
Die besten Bilder auf diesen Seiten sind von Enno.
Ein Video des Törns gibt es hier, und ein zweites von Koos kann man
hier ansehen.
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