Segelcriterium 2022 - Teil 1
Samstag, 27. August 2022, 12:41 Uhr: Mein Segelkanu ARTEMIS liegt an der letzten Wendemarke in der Landabdeckung, bewegungslos hängengeblieben ohne Wind. Vor mir nimmt Koos auf der Zielgeraden Fahrt auf; seine Böe reicht leider nicht bis in mein Flautenloch hinein. Während ich hektisch mit immer sinnloseren Manövern versuche, Fahrt ins Boot zu bekommen, abgelenkt durch Gedanken an mein begrenztes seglerisches Können und mit Blick auf Koos, der in der perfekten Ausreithaltung eines Ex-Tragflügelmottenseglers dem Sieg entgegenrauscht, frage ich mich, wo Stefan ist, Ex-Teilnehmer einer Whitbread Round the World-Etappe, Meister der Segeltaktik mit der Angewohnheit, zu den dümmsten Zeiten neben mir aufzutauchen und mich abzudecken. Zumal er in diesem Flautenloch mit seiner direkten Paddelsteuerung viel besser manövrieren und unauffällig vorwärtspaddeln kann. Wo ist Stefan?
Freitag, 26. August 2022, gegen 18:00 Uhr: Für ein Wochenende ist der Kanu-Club Hanseat wieder einmal das Zentrum aller Segelkanu-Enthusiasten auf diesem Planeten. Immer wenn ich wiederkomme sehen die schwarz gewitterten Bootsschuppen noch ein wenig schiefer aus. Das täuscht, auch wenn die Sammlung völlig unpassender Blechschilder an den Wänden noch rostiger, die Sammlung angenagelter zerbrochener Paddel noch moosiger geworden ist. Der Verein ist exakt das geblieben was er ist. Es ist die Welt drumrum, die sich verändert: fusioniert, restrukturiert, kommerzialisiert - und abgewickelt, wenn das alles nicht funktioniert. Ich kenne Vereine, denen ging es ähnlich. Andere sind zum Museum verkommen. Dieser nicht: das alte Zeug wird intensiv benutzt. Weil es so praktisch ist wie die Schubkarre als Feuerschale für den Grill, dem hineingestellten Kamin, in dem die Holzkohle vorglüht.
- In einer halben Stunde gibt es Grillwürstchen: sagt Stefan zu mir. - Freibier ist im Schuppen. Trink doch schon
mal ein Bier. Nein, trink schon mal zwei. Dann hängst du morgen in den Seilen, wenn wir an dir vorbeisegeln.
- Psychologische Kriegsführung beginnt bereits am Abend davor: doziert Stefan mit belehrend erhobenem Zeigefinger
zu den Umstehenden.
- Ich muss nicht mehr unbedingt selber gewinnen: sage ich. - Wenn Koos gewinnt, gewinne ich auch, denn er hat sein Boot
aus meinem Bausatz gebaut. Wenn Thomas gewinnt, ebenso. Und wenn du vor mir liegst, dann nur, weil du an mir
vorbeipaddelt bist.
- Vortriebserhaltende Steuerschläge, die Strategie der Sieger: sagt Stefan.
- Schau mal, ich hab ein neues Paddel mitgebracht, selbst gebaut: sage ich. - Aus Carbon, nur dreihundertfünfzig Gramm
und ganz viel Flex. Das ist das Paddel der Champions. Willst du es morgen für die Regatta haben?
- Nein: sagt Stefan: das will ich nicht. Nachher sagst du wieder, ich hätte nur wegen deines Paddels gewonnen. Ich
gewinne auch so. Mein Paddel ist nämlich aus Kirschholz.
Mist, da ist Stefan, eine Bootslänge schräg hinter mir und ausreichend in Luv, um sich mit ein paar Paddelschlägen neben mich zu schieben und mir den Wind wegzunehmen. Wind, das ist das Stichwort. Vor mir kräuselt sich das Wasser... diesen Hauch muss ich nutzen! Ich spüre den Zug der Schot in meiner Hand und nehme Fahrt auf. Während ich meine Bugwelle abhöre, schiesse ich einen scharfen Kontrollblick auf Stefan, der den Hauch ebenfalls erwischt hat und sich langsam neben mich schiebt. Kann dem nicht mal jemand das Paddel wegnehmen? Was ich jetzt brauche, ist eine kräftige Böe, die Stefan so weit überfordert, dass er das Paddel zum Bremsen einsetzen muss - und wer bremst, verliert! Ich halte entschlossen auf die Seemitte zu, weil ich weiss, dass dort der Wind am stärksten ist.
- Wir waren ein Haufen schlecht sozialisierter Einzelgänger, als wir den Verein übernommen haben: erinnert sich
Per. - Wir wollten immer schon anders sein als die anderen und dies war der Platz dafür. Das war Mitte der Achtziger,
wir haben gekämpft, und es ist nicht ohne Zoff abgegangen.
Das meint Per, aber Per ist Jurist und Zoff ist sein Job.
Inzwischen ist der Kanu Club Hanseat über hundert Jahre alt, seit den 1950er Jahren an der Wümme beheimatet - und atmet
quasi immer noch das Flair der frühen 50er Jahre. Mit über dreihundertfünfzig Mitgliedern ist er einer der
größeren Wassersportvereine in Bremen, besonders stolz auf die vielen Jugendlichen und Familien mit Kindern,
die ihre Freizeit auf dem Wasser und am Bootshaus geniessen.
Stefan sagt: Da lag dieses Dutzend historischer Segelkanus in unserem Schuppen, die ältesten knapp hundert Jahre Vereins-,
Sport- und Sozialgeschichte, und wir haben uns überlegt, was wir draus machen können. Klar, die internationale, offene
Vereinsmeisterschaft im Kanusegeln!
Der Rest ist Geschichte. Die Regatta feiert in diesem Jahr zehnjähriges Jubiläum und bleibt, was sie ist: ein
Treffpunkt um eine albern improvisierte Wettfahrt herum, eine Gelegenheit, Segelkanus, Segler, ihre Träume und ihre
Törns kennenzulernen. Gesegelt wird nach der Walter Becker Rennformel von 1956, die noch nie jemand schlüssig erklärt
oder verstanden hat. Die Wettfahrt wird auf Youtube unvergleichlich in Szene gesetzt von Burkhart, dem Weltreisenden,
der Asien ebenso gut kennt wie seine Westentasche.
Auch diesmal sind alle gekommen, nur meine Lieblingsgegner von der Faltbootsegelfraktion nicht. Da gibt es Enthusiasten,
die reisen auf eigenem Kiel, zweieinhalb Stunden unterwegs: Enno von der Leder-Loden-Leinen-Fraktion, Organisator des
Holzkanadiertreffens in Ritterhude, legt mit der letzten Tide am Schwimmsteg an, aber nicht allein. Als Bugpaddlerin hat
er Mutti dabei, weit über achzig.
- Hilft nix, Mutti wollte paddeln: sagt Enno. - Und je nachdem wie sie sich fühlt am Sonntag wieder mit der Tide
zurück.
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