Friesland 2018 - Teil 2
Zwei Ansichten
- War alles dabei heute: sagte Enno abends beim Aussteigen. - Kreuzen auf dem Lauwersmeer, in heftigen Böen. Segeln, Schleusen, Segeln, Paddeln, Segeln, Brücke, Paddeln. Jetzt bin ich echt groggy.
- Tradition belastet: sagte ich fröhlich mit einem Seitenblick auf seinen Wannigan, einer wasserdichten Kochkiste, deren Seiten und Boden perfekt an die Form seines Kanus angepasst war. Ich meinte es nicht ernst, denn ich war jeden Abend aufs Neue fasziniert davon, was er aus dieser Kiste zog, und von seinen Menüvorschlägen. Wenn Enno kocht, ist das eine sehr ernstzunehmende Sache. Er wollte seinen Dutch Oven mitbringen, einen schweren, gusseisernen Topf mit ebenso schwerem Deckel, und seinen Kelly Kessel, bis ich ihn überzeugte, dass ich beides durch den leichten Benzinkocher und zwei Outdoor-Töpfe ersetzen würde. Beim Einkaufen war sein kompromissloses Ziel komplette Autarkie über zwei Tage. Neben der grossen Handlungsfreiheit, die das Konzept mit sich brachte, war es direkte, angewendete Lebensqualität. Outdoor-Vollkornpfannkuchen wurden der Hit des Törns, mit einer Sauce aus Geräuchertem oder Speck, Gemüse und Sahne.
Frühmorgens liess ich mich von dem raspelnden Geräusch Ennos kleiner Kaffeemühle wecken, von dem leisen Zischen seines Gaskochers. Ich liebe den Duft von Kaffee am Morgen. Enno griff sein Schlaf- und Sitzkissen mit grünem Flausbezug, ich setzte mich in meinen Kanusitz, einer der zentraler Punkte meines Segelkonzepts, und blinzelte in die Sonne. Der Sitz hat den Komfort eines Bürosessels; ich kann damit nicht besser segeln, aber länger: und das ist der ganze Unterschied.
Manchmal ritt uns der Teufel.
- Hast du das Boot gesehen, das aussieht wie ein Wohnwagen: sagte ich zu Enno. - Mit der Grossfamilie drauf, die in der
Sonne liegt? Ich glaube, dieses Boot ist das nautische Äquivalent dieser Imbisswagen, in denen drehen sich die Hähnchen
am Spiess, mit Pfeffer und Salz eingerieben, um knusprig braun zu werden.
- Wir sind wohl ganz schön versnobt: sagte Enno.
Am Abend fanden wir eine Übernachtungsinsel ganz für uns allein. Auf der Kanalkarte kommen die Übernachtungsplätze in dichten Abständen, viele davon sind kostenlos. Sie wurden von der Stiftung "De Marrekrite" eingerichtet, die man mit einem Jahreswimpel unterstützen kann. Wir badeten lange, um uns abzukühlen. Als ich tiefer ins Wasser stieg, traf ich auf kalte Unterströmungen und fühlte im Schreck den eisigen Sog des Monats Mai, denn eine Reise führt tiefer in uns hinein als wir denken:
Mein Vater drückte seine tägliche Dosis Tabletten aus den Blistern, kehrte sie mit der Handkante auf dem Salontisch zu
einem Haufen zusammen und nahm sie eine nach der anderen mit einem Schluck Wasser, zuerst die lebenswichtigen,
dann die gegen die Nebenwirkungen. Der Wind drückte böig neblige Fetzen gegen die beschlagenen Salonfenster. Kleine
Wellen klatschten regelmässig gegen das Heck, schaukelten das Boot, sicher vertäut an der Spundwand des Kanals.
- Mistwetter: sagte mein Vater und sah auf.
Der Nebel war langsam aufgekommen. Er hatte den Himmel grau überzogen und den Horizont dunstig verstellt, die nähere Umgebung Stück für Stück in weiche suppige Watte verpackt, mit Strichregen auf eine enge, farblose Welt reduziert. Übrig blieb die geschärfte Aufmerksamkeit für Geräusche: das helle Klöppeln von Regentropfen auf dem Kabinendach, das Rauschen des Wassers in den Speigatten, dumpfes Glucksen der Wellen an der Bordwand. Was mich betrifft: ich mag den Nebel, denn er erinnert mich an meine eigene Blindheit. Mein Leben ist eine Art von nebligem Unverständnis; nichts ist jemals klar gewesen. Warum ich auf dem Wasser bin, ist mir selbst nicht zugänglich: eine von Millionen Arten, die Zeit zwischen Geburt und Tod mit Leben zu füllen, nicht bedeutungsvoller als auf dem Sofa tagelang fernzusehen, Tanzstunden zu nehmen oder die Handtaschen alter Damen zu klauen. Jeder macht irgendwas. So gesehen ist der Nebel eine ehrliche Sache, näher an der Wirklichkeit aller Dinge, Ausdruck ihres undurchdringlichen Geheimnisses. Der klare Blick bis zum Horizont tröstet und beruhigt, aber er ist eine Illusion.
- Du hast mir versichert, dass jenseits des Knicks auf der Karte noch ein Kanal nach Alde Feanen geht: sagte Enno.
- Ich vertraue dir, wie im richtigen Leben.
- Das ist so, und du musst dir keine Sorgen machen: sagte ich. - Aber im richtigen Leben weiss man nicht, was an der
nächsten Ecke passiert, und es gibt auch keine Karte.
Der Nationalpark Alde Feanen ist ein Flachmoorgebiet, eine Spielwiese für kleine Boote mit Seen, Röhricht, Weideland und Sträucher voller Kräuter, Insekten, Pflanzen und Vögel.
Vor unseren Augen stieg ein Reh ins Wasser, schwamm durch den Kanal und verschwand im Unterholz der nächsten Insel.
- Heute wird es windstill und sehr heiss: sagte Enno. - Lass uns einen Tagesausflug mit dem Kanu nach Earnewald machen,
abends sind wir wieder hier.
Wir bunkerten Bier, eines der Gegenmittel gegen die Hitze, und kühlten es in einem nassem Handtuch aufgehängt.
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